Das Böse im Wohnzimmer

von Michael Wolf

Heidelberg, 28. April 2017. Das nennt man dann wohl Ironie des Stückemarkts. Der beginnt mit der Premiere des letztjährigen Siegers des Autorenpreises: Maria Milisavljevic' "Beben". Ein Stück, das dermaßen strotzt vor Anspielungen, dass der Kritiker gerne erstmal in Ruhe ein paar Verweise checken würde. Und dann geht das WLAN im Hotelzimmer nicht. Immerhin lenkt so nichts vom Schreiben ab. Unsere Aufmerksamkeitsspanne sei inzwischen auf gerade mal "Eine Minuten 32 Sekunden" gesunken, heißt es im Text. Hier geblieben, liebe Leser! Es geht in "Beben" immerhin um nichts Geringeres als unser Verhältnis zur Welt.

Stimmen berichten wie Großvater aus dem Krieg von der Zeit bevor das Internet uns mit der Welt verband, und dann berichten sie vom Gemetzel vor der Haustür. Computerspiele und Videoformate treten schon gar nicht mehr in Konkurrenz zu unserer Wahrnehmung, sondern sind längst eins mit alten Erzählweisen. "Resident Evil vor der Haustür." Die Befreiung unseres Daseins von den Fesseln Ort und Zeit kommt in "Beben" bedrohlich daher.

Sog der Jetztzeit

Apokalyptische Szenarien wechseln sich mit Computerspielsprache und Anleihen bei der Mythologie William Blakes ab. Alles und nichts sind gerade genug für Milisavljevic' Beschreibung unserer Gegenwart. Beliebig wirkt das nicht. Eine stringente Geschichte würde ja auch nicht zum Thema passen #fakenews #chemtrails #wasistdasfür1Life.

Problematisch wird’s dann aber doch, wenn Milisavljevic aus der Deckung kommt und zaghaft realistische Figuren entwirft. Ein Soldat erschießt einen tauben Jungen und suhlt sich daraufhin im Selbstmitleid. Die Mutter des Toten sucht den Scharfschützen auf, um ihm zu vergeben. "Und da stand sie vor mir. Und sie sah mich an und sagte: 'Ich würde deine Hand halten. Wenn du willst. Hier. Nimm meine Hand.'"

HD Beben064 700 Annemone Taake uVom Yoga zum militärischen Drill, und dann purzelt schon mal jemand die Treppe runter in Erich Sidlers
körperbetonter Inszenierung von "Beben" zum Auftakt des Heidelberger Stückemarkts © Annemone Taake
 

An diesen Stellen rückt die Simulation der Welt zu nah an konkrete politische Ereignisse. Und seien sie noch so erfunden, sie wirken vertraut aus Filmen, aus der Tagesschau. Das sind schon Ansätze von Geschichten. Geschichten haben allerdings eine Chronologie und spielen nicht nur im endlosen Fluss unserer Jetztzeit. Dafür bräuchte es Figuren, aber in Beben gibt es nur Stimmen und bedrohliche Stimmung.

Schlachtfeld Körper

Auf der Bühne heißt das: Das Ensemble zittert angesichts der Unsicherheit der Welt. Zusammen mit Choregraph Valentí Rocamora i Torá setzt Erich Sidler in seiner Inszenierung ganz auf die Körper. Thematisch komplexe Texte wie "Beben" fordern nach starken Setzungen. Sidler entscheidet sich dafür, die Haltlosigkeit des Menschen im digitalen Zeitalter zu zeigen. Er nimmt den Text in den Würgegriff und presst Angstschweiß aus ihm heraus. Nicht einmal im eigenen Fleisch kann man sich noch geborgen fühlen, wenn die Technik es uns zumutet, zugleich im Wohnzimmer und im Kriegsgebiet zu sein.

HD Beben 700 022 Inmitten der Unsicherheit der Welt © Annemone Taake


Auf der kargen Bühne erscheinen erst nur die Köpfe der Schauspieler. Vorsichtig luken sie zu Beginn über den Treppenstufen hervor, die Dirk Becker gebaut hat. Die Treppe taugt als Symbol der menschlichen oder digitalen Entwicklung, vor allem aber ist sie ein Hindernis für das rasante Spiel. Atemlose Körper bilden ein Schlachtfeld namens Gegenwart. Die Schwerkraft ist außer Stand gesetzt.

Schweiß-Funkeln

Altbekanntes gilt gerade nicht mehr. Neue Naturgesetzte müssen erst noch erfunden werden. Die Schauspieler glucksen im Chor, sprechen in fremden Zungen, imitieren Hausmeister Krause oder Sid aus Ice Age. Sie tragen schwer an der Popkultur, hetzen zu "But I'm a 90s Bitch" über die Bühne. Sie scheitern mal grandios, mal kümmerlich an Yoga-Übungen, die unversehens in militärischen Drill übergehen, Körper purzeln die Treppe hoch und runter. Unten treffen sie auf das Publikum, und in solchen Momenten gelingt die Übertragung. Über Strecken des Abends wird Maria Milisavljevic' Text etwas trocken mit Blick ins Publikum präsentiert. Dann hängt er oft schutzlos in der Luft, nicht mehr als Behauptung einer Beunruhigung. Aber in Schweißperlen funkelt er bedrohlich.

 

Beben
von Maria Milisavljevic
Uraufführung
Regie: Erich Sidler, Choreografie: Valentí Rocamora i Torà, Bühne und Kostüme: Dirk Becker, Dramaturgie: Sonja Winkel.
Mit: Sophie Melbinger, Nanette Waidmann, Benedict Fellmer, Raphael Gehrmann, Dominik Lindhorst-Apfelthaler, Hendrik Richter.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.theaterheidelberg.de

 

Zum Stückporträt von "Beben" aus dem Vorjahr