Küchengespräche extrem

von Michael Wolf

Heidelberg, 29. April 2017. Es ist ein Paradox: Theater erklärt sich unermüdlich als Ort der politischen Analyse. Als besonders politisch gelten aber ausgerechnet jene Inszenierungen, die sich vom Theater im engeren Sinne entfernen. Die Avantgarde verlässt die Bühne. Das "Zentrum für politische Schönheit" trägt ihre Aktionen in den öffentlichen Raum. Yael Ronen verhandelt auf der Bühne Rechercheergebnisse, die sie mit ihrem Ensemble auf Exkursionen durch Ex-Jugoslawien, Israel oder ein Deutschland im Ausnahmezustand sammelt. Und auch Milo Rau ist ein Grenzgänger der Formate. Der designierte Leiter des NT Gent zieht durch die Welt und formt aus seinem Material Filme, Bücher, Essays, Performances - und eben auch Theaterabende.

Warum überhaupt Theater?

Warum denn überhaupt Theater? Warum nicht ein Dokumentarfilm? Die Frage stellt sich bei Raus dritter und letzter Folge seiner Europa-Reihe "Empire": 4 Schauspieler – ein Kurde, ein Syrer, ein Grieche und eine jüdische Rumänin sitzen im Nachbau einer Küche in einer Wohnung im türkisch-syrischen Grenzgebiet und erzählen aus ihren Leben. Aus ihren eigenen Leben. Von ihren Eltern und Großeltern, von ersten Masturbationsversuchen, von Prügel, von Flucht, Unterdrückung und ihren Wegen nach und durch Europa.

HD Empire2 700 marc stephan uSchicksalsschläge ungeschönt am Küchentisch: Ramo Ali, Maia Morgenstern, Akillas Karazisis
in "Empire" © Marc Stephan


Maia Morgenstern findet in einer Drehpause in Auschwitz heraus, dass ihr Großvater dort zu Tode kam. Ramo Ali schafft es erst in einem syrischen Foltergefängnis sein Verhältnis zum prügelnden Vater zu reflektieren. Akillas Karazissis flieht vor dem düsteren Griechenland der Militärdiktatur und landet schwer depressiv in Heidelberg. Rami Khalaf schafft es kurz vor seiner Verhaftung durch Assads Truppen mit einem gefälschten Pass nach Schweden. Charmante Anekdoten, dramatische Schilderungen, tragische Schicksalsschläge. Die vier geben alles. Sie geben uns alles. Und das ist erst mal vor allem eins: zu viel.

In die Kamera erzählt

Ein Theaterpublikum ist grausame Geschichten gewohnt. Wie die der Kindermörderin (und Geflüchteten) Medea, ein Stück, das sich hin und wieder in den Text schleicht wie als Erinnerung an ein überkommenes Theater, das noch leichthin konsumierbar war. Im Gegenteil dazu haben wir es an diesem Abend nicht mit tausenden von Jahre alten Figuren zu tun, sondern mit Menschen, die ihre eigenen tragischen Leben nacherzählen. Und deswegen ist dieser Theaterabend eine Zumutung. Er übt Zwang aus, er gibt nichts und fordert nur. Das Ensemble schluchzt und windet sich unter den Erinnerungen. Zweifelhaft sind ihre Tränen – immerhin. Die Inszenierung tourt seit September durch Europa. Die Emotionen müssen also wiederholbar sein. Und es ist zu hoffen, dass sich die vier nicht bei jeder Vorstellung vor dem Publikum entblößen, sondern sich selbst als Rollen spielen.

Für uns als Publikum ist diese Vermutung ein schwacher Trost. Denn so oder so müssen wir uns verhalten. Die teils sehr harten Schilderungen fordern Mitleid, fordern Wut, fordern heraus. Anders gesagt: Sie nehmen uns in emotionale Geiselhaft. Heulen und Zähneklappern auf der Bühne wie im Publikum – gut gemeint, am Ende des Abends bleibt es doch nur (schlechtes) Theater.

HD Empire1 700 marc stephan uDen Blick auf den Zuschauer zurückwerfen © Marc Stephan


Aber so einfach ist es nicht. Denn die Schauspieler sprechen ihre Geschichten nicht ins Publikum, sondern in eine Kamera. Über der Bühne sehen wir ihre Gesichter in schwarz-weiß. Hinzu kommt Recherchematerial: Fotos von zu Tode gefolterte Häftlingen, unter denen Rami Khalaf seinen Bruder sucht. Oder ein Video, das Ramo Alis Cousine nach einem Anschlag zeigt. Mit Blut und Dreck besudelt läuft sie durch die Trümmer, unter denen ihre Tochter begraben liegt.

Empathie für den Einzelnen

Das eigentliche Thema des Abends sind nicht die Schilderungen unserer vier Kronzeugen. Es ist unsere Sicht auf die Katastrophen, die ihre Leben prägten. Wir im sicheren Europa kennen Syrien aus der Tagesschau, die autokratischen Regime Nicolae Ceaușescus und der griechischen Militärjunta aus dem Geschichtsunterricht. Der eigentliche Schock dieser Inszenierung besteht darin, dass sie uns ahnen lässt, dass hinter den ewig gleichen Bildern, hinter unseren Leitartikeln und unseren Spendenquittungen Menschen stehen, die in diesem Moment lachen, leiden und sterben. Und so kehrt Milo Rau über Umwege zurück zur wichtigsten Aufgabe des Theaters: Es erzählt uns etwas und lässt uns eine Weile daran glauben. Ob dieser Abend gutes Theater oder überhaupt Theater ist, kann uns also egal sein. Sicher ist: Gegen "Empire" wirkt die Tagesschau wie eine lahme Boulevard-Klamotte.

 

Empire
von Milo Rau
Uraufführungs-Gastspiel
Konzept, Text und Regie: Milo Rau, Dramaturgie und Recherche: Stefan Bläske, Mirjam Knapp, Ausstattung: Anton Lukas, Video: Marc Stephan.
Text und Spiel: Ramo Ali, Akillas Karazissis, Rami Khalaf, Maia Morgenstern.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schaubuehne.de
www.international-institute.de
www.theaterspektakel.ch

   

Zur Nachtkritik der Uraufführung beim Zürcher Theaterspektakel im September 2016

 

Kommentare  

#1 Empire: wieso Tagesschau?Sockeraus 2017-04-30 13:15
Warum erwartet jemand, dass die Tagesschau ähnlich wie Theater wirken soll? - Will er etwas über die politische, ökonomische undoder ökologische Lage der Welt WISSEN, um sich daraufhin näher mit ihr zu beschäftigen, um persönliche politische Meinungen auszubilden auf deren Grundlagen er Handlungsentscheidungen in seinem eigenen Lebensraum trifft? Oder will er durch die Tagesschau prinzipiell nur unterhalten werden. Weshalb er dann für Reportagen lieber vom Theater inszenierten Reportagen zuschaut, weil die weniger altmodisch wirken und sich auch weniger dem Boulevard-Gala-Themen anbiedern wegen der Einschaltquote???
Wenn Milo Raus Inszenierungen die Tagesschau ersetzen, weil sie besser als diese seelische Sensationen
auszulösen vermögen - nun, dann hofft man, dass keine Theater GEZ eingeführt wird, damit sich das Theater bei dem Anfall von aktuellem Weltgeschehen die teure Dauer-Darstellung auch leisten kann -
Das sagt bitte nichts gegen diese konkrete Inszenierung!

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