Bruder gegen Bruder

von Verena Großkreutz

Heidelberg, 7. Mai 2017. Wer ist der Schurke und wer der Held? In einem so lange fremdbestimmten Land wie der Ukraine wechselte die Sicht auf die Dinge oft, wie sich an der Stadt Lwiw sehen lässt, aus der der Dramatiker Pavlo Arie stammte. Lwiw war im Mittelalter polnisch (und hieß Lwów). 1772 fiel es an Österreich (und hieß Lemberg). Zwischen den Weltkriegen war es wieder polnisch, ab 1939 dann ukrainische Sowjetrepublik. Die Nazis okkupierten die Stadt von 1941 bis 1944, dann war sie wieder sowjetisch – bis zur Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1991. Danach avancierte Lwiw zum Zentrum der ukrainischen Nationalbewegung, die eine Abkehr von Russland forderte.

Lwiw spielt auch in Pavlo Aries Bühnenstück "Ruhm den Helden" eine Rolle, das das Theater Goldenes Tor aus Kiew jetzt in einer Inszenierung von Stas Zhyrkov im Zwinger zeigte. In "Ruhm den Helden" geht es um zwei Greise mit schwachen Herzen, die zufällig im selben Krankenhauszimmer landen. Für "Helden" ist die Operation kostenlos. Zwar sind beide Männer ukrainische Kriegsveteranen, aber sie gehörten im Zweiten Weltkrieg und danach feindlichen Lagern an. Der eine, Ostap (Oleksii Hnatkovskyi), kämpfte für die Partisanen der Ukrainischen Aufstandsarmee UPA, dem militärischen Arm der national-ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung, die in Lwiw ihre Keimzelle hatte. Der andere, Andriy (Dmytro Rybalevskyi), kämpfte auf der Seite der Sowjetarmee.

Bett in Schräglage

Im Krankenhaus stehen sich die beiden zunächst unversöhnlich gegenüber, dort brechen aber auch Kriegstraumata wieder auf. In Gestalt von Schuldgefühlen, etwa wenn sich Andriy an einen gleichaltrigen jungen Mann mit "Augen so blau wie der Himmel" erinnert, den er mit dem Gewehrkolben erschlug. Oder die eigene Familiengeschichte betreffend: Ostaps Vater und Bruder wurden 1940 in Lwiw vom Geheimnisdienst abgeholt, gefoltert und getötet. Seine Tochter wurde von Milizionären vergewaltigt. In seiner Enkelin Hanja, selbst Pflegerin im Krankenhaus, wuchert das Trauma, die Vergangenheit weiter, lähmt sie, zerstört sie. In welchem Jahr und wo genau das Stück spielt, bleibt unklar. Ostap jedenfalls, dem Ex-Partisanen, wird die Operation am Herzen verweigert, während sie Andriy, der für die Sowjets tötete, gewährt wird.

Ruhm den Helden 700Kriegsveteranen warten auf ihre Operation © b17.kiev.ua

Auch ein riesiges Bett in Schräglage dient dem Ensemble als Spielfläche, eine surreale Verformung der Bühnengegenwart, alpträumerisch, mal in grelles Licht getaucht, mal flattern videoprojizierte Vöglein übers weiße Bettlaken. Man spielt grotesk überzogen, mal slapstickig. Mal hallt die Stimme der Chefärztin geisterhaft, mal verjüngen sich die Alten und vollführen zu Ukraine-Folk zackige Tänzchen. Es wird viel Energie freigesetzt auf der Bühne, viel geschubst und gewürgt, viel verzweifelt gebrüllt. Schrill und laut auch die Krankenschwester Olja (Vitalina Bibliv), die herrlich konstant unter Dauerhochdruck steht und so schnell Ukrainisch spricht, dass die Übertitel auf eine Übersetzung verzichten.

Im korrupten Zweiklassenkrankenhaus

"Ruhm den Helden" gilt derzeit als das meistgespielte Gegenwartsstück in der Ukraine. Es ist klar, warum. Der alte Konflikt der beiden Greise steht für den heutigen Bürgerkrieg: Bruder gegen Bruder in einem von Gewalt zerrissenen Land, das nach wie vor auf der Suche nach einer Identität ist. Und so setzt das Stück am Ende einen kleinen Lichtblick: den der Versöhnung. Weil in diesem Zweiklassenkrankenhaus die korrupte Chefärztin das Sagen hat, die gegen viel Geld den mittellosen Ostap illegal operieren würde, bietet sich Andriy unter Zahlkraft seines Unternehmer-Sohnes an, die Kosten zu übernehmen. Die Greise sterben am Ende beide. Aber die mühsame Versöhnung im Tod macht für die Enkelin Hanja den Weg frei in eine Zukunft, die sie endlich zum Leben auffordert.

Beim Verbeugen zückt ein Schauspieler die gelb-blaue Ukraine-Flagge. Das Publikum antwortet mit Standing Ovations.

 

Ruhm den Helden
von Pavlo Arie
In ukrainischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Theater Goldenes Tor Kiew
Regie: Stas Zhyrkov.
Mit: Kseniia Basha, Vitalina Bibliv, Oleksii Hnatkovskyi, Dmytro Rybalevskyi, Irina Tkachenko.
Dauer: 2 Stunden und 15 Minuten, eine Pause
www.zoloti-vorota.kiev.ua

 

Zur "Theaterlandschaft Ukraine" von Anastasia Magazowa