"Ein Mensch verschwindet, und das war es dann ..."

von Verena Großkreutz

Romanov KaempfAnton Romanov schreibt mit blutender Zunge © sikHeidelberg, 6. Mai 2017. Anton Romanow sticht sich in den Zeigefinger und quetscht Blut heraus, kniet sich auf den Boden und schreibt mit diesem Blut große kyrillische Lettern auf weißes Papier. Die Dolmetscherin übersetzt: "Das ist nicht mein Krieg. Das ist nicht mein Blut. Das ist nicht meine Schuld." Immer wieder sticht sich Romanow in den Finger, um rote Tinte zu zapfen. "Ich habe nicht umgebracht." Später wird er die vielen "nicht" mit seiner blutigen Zungenspitze streichen. Auch die zersticht er immer wieder mit einer Nadel, um Schreibflüssigkeit zu gewinnen: "Russischsprechende Ukrainer bringen russischsprechende Ukrainer um."

In dieser Performance "Russisch auf Ukrainisch" des PostPlayTeatre Kiew geht es um die Krim, die Russland 2014 annektierte, unter dem Vorwand, die russischsprachigen Bewohner "vor Angriffen" zu schützen, so Romanow. Er selbst ist auf der Krim aufgewachsen, ukrainischer Staatsangehöriger russischer Nationalität, also russischsprachig. Aber umso mehr im Zwiespalt mit der Annexion der Halbinsel.

"Ukrainischsprechende Russen, verzeiht mir!", lässt er seine Zunge schreiben, in Hinblick wohl auf die "anderen" Krimbewohner. Zunächst schockiert das, was Romanow da im Freien vor dem Zwinger "nicht performt", sondern "stattfinden" lässt, wie er selbst sagt. Es herrscht Grabesstille, wie auf einer Beerdigung. Doch die Ausdauer, mit der Romanow eine halbe Stunde lang seinen Körper malträtiert und anzapft, führt bei aller Intensität beim Publikum nach einer gewissen Zeit doch zur Abstumpfung. Es beginnt zu quasseln, anderen wird übel, die Smartphones werden gezückt. Die Botschaft aber ist klar und sehr, sehr existenziell.

Lichtblicke der Menschlichkeit

Drinnen im Zwinger geht es weiter mit dem Theatre of Displaced People Kiew, das 2015 gegründet wurde als dokumentarisches Theater, das nicht Berufsschauspieler auf die Bühne stellt, sondern Menschen, die ihre eigenen, realen Lebensgeschichten erzählen. Meist Binnenflüchtlinge aus dem Donbass, ehrenamtliche Helfer oder Soldaten. Die Produktion "Wo ist Osten?" zeigt zwei krass gegensätzliche Monologe.

Wo ist Osten 700 Anastasia VlasovaAlik Sardarian im ersten der beiden Monologe des Theatre of Displaced People © Anastasia Vlasova

Zunächst kommt der ukrainische Sanitäter Alik Sardarian zu Wort – auf karger Bühne, leblos vor ihm liegend ein Mann im Tarnanzug, ein Soldat. Der Sanitäter berichtet vom Verschwinden von Menschen während des Kriegs in der Ostukraine. Videomaterial, privat und verwackelt, wird eingeblendet. Eine Frau erklärt: Zu sterben sei gar nicht das Schlimmste, sondern jemanden nicht begraben zu können, nichts zu wissen, was mit ihm geschehen ist. Diese Ungewissheit. "Ein Mensch verschwindet, und das war es dann." Viele Tote seien gar nicht wiedererkennbar. Was müsse man durchmachen, um sich so zu verändern im Sterben, fragt eine andere. Und dann das letzte Ausatmen der Sterbenden: "Der schrecklichste Laut", den er je gehört habe, sagt der Sanitäter. Dann berichtet er von einem Separatisten (der russlandfreundlichen Gegenseite), der sich schwerstverletzt ins Sanitätercamp schleppt. Und die Crew entschließt sich, ihm, einem Menschen in Not, zu helfen statt ihn, den "Feind", zu töten. Der Mann überlebt. Lichtblicke der Menschlichkeit in diesen per se absurden, schrecklichen Kriegswirren.

Kuss im Schussgewitter

Monolog zwei überrascht. Es geht jetzt nicht um die Gräuel des Krieges, sondern um eine ganz normale Liebesgeschichte im Zeichen der Gräuel des Krieges. Auf der Bühne hocken auf Stühlen frontal zum Publikum acht Männer, die vorher aus dem Publikum rekrutiert wurden. Sie bleiben stumm. Die Bühne wirkt ein bisschen wie eine Flughafenhalle in Friedenszeiten. Im Krieg verändert sich die Sicht gewisser Schichten auf Soldaten. Eine vormals verpönte Personengruppe wird plötzlich attraktiv und bewundert.

Auch Natalia Vorozhbyt denkt so, wie sie selbst erklärt. Gespickt mit deftigen Details – vom "Blowjob" bis "er kriegte keinen hoch" – erzählt sie ihre Liebesgeschichte, von ihren Gefühlen zu einem ukrainischen Soldaten. Und sie klammert auch ihre Eifersucht auf die "offizielle" und "dumme" Geliebte ihrs Lovers, die über Facebook Piroggen-Rezepte und Diät-Tipps verbreitet, nicht aus. Sie lernte den Soldaten im Rahmen ihrer Recherchen über die Schlacht um den Flughafen Donezk kennen. Und er schlägt ihr eine Tour durch die Ostukraine vor. Und die wird für Vorozhbyt zu einer Art Urlaubsgeschichte: Man schläft und amüsiert sich in Kasernen und Feldlagern, man futtert Tunfischkonserven und Brot am Strand, der erste Kuss: mitten in der Kulisse eines Schussgewitters. Sie scheint mit diesem Krieg eben nicht wirklich etwas zu tun zu haben. Und das Publikum? Es nimmt drei sehr unterschiedliche Blicke auf einen Krieg mit nach Hause.

 

 

Russisch auf Ukrainisch
von Anton Romanov
PostPlayTeatre Kiew
Mit: Anton Romanov.
www.facebook.com/postplaytheater

Wo ist Osten?
von Natalia Vorozhbyt und Alik Sardarian
Theatre of Displaced People Kiew
Regie: Georg Genoux, Alik Sardarian, Mitarbeit: Maxim Nakonechnyi.
Mit: Alik Sardarian, Natalia Vorozhbyt.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.displacedtheatre.com

 

Zur "Theaterlandschaft Ukraine" von Anastasia Magazowa