Zerrissene Landschaft

von Simone Kaempf

Heidelberg, 6. Mai 2017. Die Ukraine als unübersichtliches Land zu bezeichnen ist vermutlich eine große Untertreibung. Fast doppelt so groß wie Deutschland, fast 43 Millionen Einwohner – ohne die Krim und ohne Sewastopol gezählt. Mitzählen oder weglassen? Beides ein Politikum. Der Konflikt um die Regionen der Ostukraine hält das Land im Ausnahmezustand, liefert Diskussionsstoff. Aber wie berührt der Bürgerkrieg die Menschen im Rest des Landes wirklich?

amnesty international hat zum Auftakt des Gastlandprogramms einen Stand im Theaterfoyer aufgebaut, um über Menschenrechtsverletzungen und die immer wieder ausbrechenden Kämpfe zu informieren. Hier findet man deutliche Worte. Die drei Stücke ukrainischer Theaterautoren, die um den internationalen Autorenpreis konkurrieren, gehen damit indirekter und subtiler um. In der Ukraine erlebt Dokumentartheater gerade einen Boom, bietet es Möglichkeiten, die am Bürgerkrieg Beteiligten direkt erzählen zu lassen. Die Stückeschreiber sind zurückhaltender.

Öko-Ballade

Autorin Olga Mazjupa etwa, die zurzeit im polnischen Lublin in Theaterwissenschaft promoviert, sagt sehr ehrlich, dass sie sich gar nicht in der Lage sieht, über den Bürgerkrieg in der entfernten Ostukraine zu schreiben, "das sollten die direkt Betroffenen übernehmen." Und doch bewegt sich ihr Stück entlang aktueller Konfliktlinien jenseits des erwartbaren Konfliktherdes – und verlegt die Handlung ihrer "Öko-Ballade" in ein Dorf in den Karpaten.Abstimmung 700 Annemone TaakeDas Publikum stimmt über den Publikumspreis beim Autorenwettbewerb ab. © Annemone Taake

Auch von hier zogen junge Männer in den Bürgerkrieg, der Bruder von Alina nämlich, von dem als großem Abwesenden immer wieder die Rede ist. Das Leben in den Bergen ist von ganz anderen Problemen geschüttelt. Alinas Verlobter sitzt im Rollstuhl seit dem Unfall bei einem Holztransport. Sie arbeitet jetzt für den Chef der staatlichen Umweltaufsichtsbehörde, nach und nach offenbart sich, dass er mit illegalen Rodungen viel Geld verdient und auch an dem Unfall Mitschuld trägt. Alina hat er angestellt, um Schuld abzugelten, auch aus Aberglauben, der in den Wäldern noch kursiert.

Die Autorin führt ins stillstehende Leben abseits der Zentren ein, wo man wenig hält von so neumodischem Zeug wie Majdan-Protesten, Europa oder Schulbüchern, die behaupten, der Menschen stamme von den Affen ab. Vielmehr zirkulieren noch eine fast mythische Gottesfürchtigkeit oder die harte Weisheit alter Märchen, und am Ende wird das Dorf nicht nur von einem Vertreter der Umweltkommission heimgesucht, sondern auch von einem dystopischen Unwetter, das den See ansteigen lässt – in dem sehr genau gearbeiteten Stück ein vieldeutiges Bild fürs Zusteuern auf die Katastrophe. Das Porträt einer zerrissenen Landschaft entsteht und damit irgendwie auch das eines ganzen Landes, in dem die Korruption die Menschen beschäftigt hält. Korruption sei ein "zweiter, innerer Krieg", ein tägliches Thema, heißt es in der Diskussion.

Lora – Und es interessiert mich nicht mehr, wie es dir geht

Im Fall von "Lora" der Autorin Oksana Sawtschenko verleiht die Lesung ihrer Hauptfigur mehr lustige Aufmüpfigkeit als eigentlich im Text steht. Lora lebt mit Kind und Freund in einer Eigentumswohnung in der Stadt. Ein Status, aus dem man abzurutschen droht, denn hinten und vorne fehlt es an Geld, um den Kredit zurückzuzahlen, und damit gerät die chaotische Frau in die Mühlen eines mitleidlosen Systems. Am Ende des Stücks steht die Befreiung von Freund und Geld, malt sie die Vision eines fast kindlichen Zusammenseins. Mit viel Sprachgefühl beschreibt Sawtschenko, wie die junge Frau sich durchzuschlagen versucht, Sozialdramatik einer sehr frischen Art.

Das Nordlicht

Alle drei Stücke wurden von Lydia Nagel übersetzt, teils aus dem Russischen, teils aus dem Ukrainischen. Die Sprachverwendung ist verwirrend und will sich nicht so recht erschließen. Der Dramatiker Wolodymyr Snihurtschenko etwa spricht bei der Präsentation seines Stücks "Das Nordlicht" Ukrainisch, ein Statement, erfährt man dann hinterher von der Übersetzerin. Mit seinem Text geht es einem ähnlich: so viele Bezüge, Anspielungen, die kaum zu dechiffrieren sind. Im gedrucktem Manuskript verwendet er unterschiedliche Textgrößen, Markierungen und auch Kritzeleien als hätte er beim Telefonieren auf dem Papier gemalt. In der Ukraine erschien der Text im Jahr 2008 und gilt bis heute als Schlüsselwerk fürs postdramatische Schreiben. Daran lässt sich auch ablesen, wie jung die zeitgenössische Dramatik des Landes ist.Autorentag 3 700 Annemone TaakeWolodymyr Snihurtschenko (links) nach der Lesung seines Stücks, neben ihm Lydia Nagel, in der Mitte
Gastlandkurator Pavlo Arie © Annemone Taake

Nach der Perestroika verweigerten sich die zahlreichen staatlichen Theater lange einer Erneuerung. "Das Nordlicht" wirkt sehr zeitlos, unterschiedliche Stimmen sprechen darin über die Vergangenheit, über Geschichte und den Generationenkonflikt im weitesten Sinn. In der sehr gelungenen Heidelberger Lesung konzentriert sich der Text auf zwei Rollen: Mutter und Sohn, verbunden in einer surrealen Beziehung. Er behauptet fest, ein kleiner Hitler zu sein. Sie wirft biographische Schnipsel in Zeitsprüngen ein. Begriffe wie Inzest fallen, ob Wahrheit oder Lüge, bleibt unklar. Die Mutter erzählt ihrem Sohn lieber eine eigene Version der Geschichte, weil der offiziellen Geschichtsschreibung eh nicht zu glauben ist. Der Text macht auch das Publikum diskussionsmunter. Auf die Frage, warum es heißt: "Ich bin ein kleiner Hitler", sagt Snihurtschenko, dass die Namen austauschbar seien, "es könnte auch Stalin, Islamist oder Nato sein", je nachdem, um welchen kulturellen Kontext es geht. Putin erwähnt er nicht.

 

 

Lora – Und es interessiert mich nicht mehr, wie es dir geht
von Oksana Sawtschenko
Aus dem Russischen von Lydia Nagel
Gelesen von: Sheila Eckardt, Lea Wittig, Nanette Waidmann, Sophie Melbinger, Juliane Schwabe, Benedict Fellmer, Dominik Lindhorst-Apfelthaler, Marco Albrecht, Hendrik Richter, Olaf Weißenberg.
Einrichtung Sonja Winkel, Kristina Zalesskaya

Das Nordlicht
von Wolodymyr Snihurtschenko
Aus dem Russischen von Lydia Nagel
Gelesen von: Raphael Gehrmann und Christina Rubruck
Einrichtung Tobias Schindler, Laura Guhl

Öko-Ballade
von Olga Mazjupa
Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel
Gelesen von: Nanette Waidmann, Katharina Quast, Nicole Averkamp, Stefan Wunder, Raphael Gehrmann, Dominik Lindhorst-Apfelthaler und Hendrik Richter
Einrichtung Sonja Winkel, Kristina Zalesskaya

 

Zur "Theaterlandschaft Ukraine" von Anastasia Magazowa