Wie wär's, die Menschheit neu zu erfinden?

von Wolfgang Behrens

Heidelberg, 28. April 2017. "Wir lassen uns doch nicht von einem Bühnenbild vorschreiben, womit wir den Stückemarkt eröffnen." So oder so ähnlich mag man am Theater Heidelberg gedacht haben, als sich die Gelegenheit bot, zum Auftakt der Gastspielreihe des Festivals nicht nur eine einzelne Uraufführung zu präsentieren, sondern gleich einen ganzen Sack voll davon. Mit illustren Autor*innen von Clemens Meyer bis Felicia Zeller. Was für eine Verlockung! Problem: Das Bühnenbild zu den "10 Geboten", einer Produktion des Deutschen Theaters Berlin, ließ sich nicht mal eben in den Heidelberger Marguerre-Saal einpassen.

Theater ist Improvisationkunst

Beim Berliner Theatertreffen hatte man gerade einen ähnlichen Fall: Die Bühne von Ulrich Rasches Münchner Inszenierung der "Räuber" wollte sich partout in kein Berliner Haus übertragen lassen – man sagte das Gastspiel ab. In Heidelberg hatte man für die "10 Gebote" eine andere Lösung parat: Lassen wir das Bühnenbild einfach weg! Und so blieb hier von Florian Lösches komplexer Bühnenarchitektur kaum mehr als ein mit ascheartigen Papierschnipseln bedeckter Boden. Zum Nachteil der Aufführung schien das nicht auszuschlagen: Den entstehenden Freiraum jedenfalls nutzten die Darsteller*innen mit sportiver Lust.

HD 10Gebote 6181 700 ArnoDeclair uModernes Abendmahl in Jette Steckels Inszenierung der "10 Gebote" © Arno Declair

Ein anderes Problem des Abends freilich bleibt bestehen, ob mit oder ohne Bühnenbild: Denn die Idee der Produktion, verschiedene Autor*innen zur Auseinandersetzung mit je einem alttestamentarischem Gebot zu bewegen, führt fast zwangsläufig zu einem recht disparaten Sammelsurium, dem auch die Regie von Jette Steckel keinen inneren Faden einzuziehen vermag. Immerhin gilt das Goethe-Wort: "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen", und das vertritt Jette Steckel hier offensiv, indem sie den Szenen gerade kein äußeres Formkorsett aufzwingt, sondern sie scharf kontrastierend modelliert.

Verhöre und Obsessionen

Da folgt dann etwa auf einen ersten kalauernden Monolog von Clemens Meyer zum ersten Gebot ("Nennt mich Jachwe, ich bin der Wolkenmäcki") das knallharte Verhör eines jungen Mannes, der sich des Ehrenmords an seiner Schwester schuldig gemacht hat. Natali Seelig spielt diesen Mörder in einer grandiosen Mischung aus explosiver Aggressivität und nervöser Verletzlichkeit – bereits diese Szene von Sherko Fatah verfolgt man freilich völlig losgelöst vom Inhalt des zugrundeliegenden Gebots ("Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen").

HD 10Gebote 0359 700 ArnoDeclair uEngelchen und Teufelchen? Eher zweimal Teufelchen, bella figura machend: Wiebke Mollenhauer und
Ole Lagerpusch in "10 Gebote" © Arno Declair

In bunter Folge geht es weiter: Ein Film von Jan Soldat beschäftigt sich mit der Obsession des Opfers des "Kannibalen von Rothenburg", der sexuell aufgeladenen Fantasie, geschlachtet und verspeist zu werden ("Du sollst nicht töten"). Felicia Zeller spießt witzig die "Lügenpresse"-Rhetorik der neuen Rechten auf – mindestens ebenso witzig ist das Bild, das Jette Steckel dafür gefunden hat: ein Chor, der enthemmt korrigierend auf den mosaischen Gebotstafeln herummeißelt. Ole Lagerpusch und Wiebke Mollenhauer jagen in schrillen Elastan-Anzügen und in René-Pollesch-Manier durch einen Text von Mark Terkessidis, der den "neuen Bürgerlichen" böse vorrechnet, wie sie politische Korrektheit als Distinktionsmittel gegenüber den "Prolls" gebrauchen.

In der Sackgasse

Am Ende – wir sind beim elften (!) Gebot von Rocko Schamoni angelangt – betritt dann noch Gott selbst die Bühne – Ole Lagerpusch im weißen Zottelkostüm. Er hat ein Schaf dabei und räumt ein, dass seine Schöpfung – der Mensch – eine "maximale Sackgasse" war. Das Schaf blökt dazu. Das Zottelwesen sagt, ans Publikum gewendet: "Ich möchte mich entschuldigen für das, was ihr seid." Und plötzlich antwortet eine alte Dame aus dem Zuschauerraum: "Määäh!" Das zwölfte Gebot aber lautet: "Dem ist nichts hinzuzufügen!"

10 Gebote
Uraufführungs-Gastspiel
1. Gebot: "Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir." Text: Clemens Meyer
2. Gebot: "Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen." Text: Sherko Fatah
3. Gebot: "Du sollst den Feiertag heiligen." Filmregie: Bernadette Knoller, Anja Läufer, Claudia Trost
4. Gebot: "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren." Text: Jochen Schmidt
5. Gebot: "Du sollst nicht töten." Recherche, Filmregie und Interview: Jan Soldat
6. Gebot: "Du sollst nicht ehebrechen." Text: Nino Haratischwili
7. Gebot: "Du sollst nicht stehlen." Text: Navid Kermani, aus dem Sammelband "Vierzig Leben" entnommen, Ammann Verlag, Zürich 2004
7. Gebot: "Du sollst stehlen." Text: Maxim Drüner (K.I.Z.) und Juri Sternburg
8. Gebot: "Du sollst nicht lügen." Text: Felicia Zeller
9. Gebot: "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus." Text: Mark Terkessidis
10. Gebot: "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat." Text: Dea Loher
11. Gebot Text: Rocko Schamoni
Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Pauline Hüners, Dramaturgie: Anika Steinhoff.
Mit: Markus Graf, Judith Hofmann, Lorna Ishema, Ole Lagerpusch, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer, Helmut Mooshammer, Andreas Pietschmann, Natali Seelig.
Dauer: 4 Stunden, eine Pause
www.deutschestheater.de

 

Wiebke Mollenhauer, Ole Lagerpusch

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