Den Verhältnissen auf der Spur

von Sophie Diesselhorst

April 2017. Die Zeit läuft. Schnell und schneller. In den Boomregalen der Bahnhofsbuchhandlungen liegen Malbücher für Erwachsene neben Achtsamkeits-Ratgebern, als könnten wir uns dagegen wappnen. Nein, denn die Zeit rennt sowohl in global sich überschlagenden Ereignissen als auch auf den Timecodes auf unseren Smartphone-Displays, während wir Ausschnitte unseres Erlebens per Videokamera vermeintlich verewigen. Und am allerschnellsten galoppiert sie im Zähler der Zeitbombe, mit der Abdel Jabbar Shahid f.k.a. (formerly known as) Julian sich in Anna Kuschnarowas "Djihad Paradise" mitten im hektischen Trubel des Berliner Einkaufszentrums Alexa gleich in die Luft sprengen wird.

Eine Zeitbombe hat allerdings einen konkreten Fluchtpunkt – zählt also runter. Und so nutzt Kuschnarowas Roman, den Ronny Jakubaschk am Thalia Theater Halle zur Uraufführung gebracht hat, die schnellen zehn Sekunden vom Auslösen bis zur Explosion auch für einen Blick zurück, findet eine kurze Ewigkeit in der Vergangenheit, aus der diese Bombe kommt. Und auch die beiden anderen zum diesjährigen Heidelberger Stückemarkt eingeladenen Jugendstücke, "All about nothing" von pulk fiktion und "Der goldene Ronny" von Daniel Ratthei, entziehen sich dem aktuellen Hochtempo der Zeit, lassen sich aus der Zeit fallen, mindestens zeitweise.

Aus der Zeit gefallen sind sie deshalb aber ganz und gar nicht, sondern betätigen sich allesamt mit frischem Blick als Weltensucher und begeben sich dafür entweder ganz direkt an den Siedepunkt jugendlicher Lebenswirklichkeit: Das Klassenzimmerstück "Der goldene Ronny" lädt ein zur beobachtenden Teilnahme an einer Mini-Klassenfahrt. Oder die Autor*innen sind rausgegangen, haben mit Jugendlichen gesprochen und setzen sich und ihre künstlerischen Mittel, zurück im Theaterraum, in Bezug zu den Ergebnissen der Recherche. Wobei pulk fiktion in "All about nothing" nicht nur ihren eingefangenen Geschichten nachspüren, sondern auch den Entwicklungsmöglichkeiten ihrer eigenen postdramatischen Erzählformen.

"Djihad Paradise" – Romeo und Julia bei den Salafisten

"Djihad Paradise" von Anna Kuschnarowa vertritt das derzeitige Modethema des Jugendtheaters, nämlich die Beschäftigung mit den Motiven Jugendlicher, sich (islamistisch) zu radikalisieren. Wobei "Djihad Paradise" gar nicht als Stück, sondern (2013) als Roman entstanden ist, dessen atemlos die zehn Zeitzündersekunden ausmessender Duktus allerdings die szenische Fantasie automatisch anspringen lässt. Die studierte Archäologin Anna Kuschnarowa, die als Autorin und Fotografin in Leipzig lebt, erzählt die Geschichte von Julian Engelmann, der zu Abdel Jabbar Shahid wird. "Shahid", das bedeutet auf arabisch "Märtyrer", und dieser neue Name schreibt Julian sein trauriges Ende als Selbstmordattentäter im Einkaufszentrum ein.

Wobei "Djihad Paradise" dieses Ende zwar gleich zu Anfang vorwegnimmt und die ganze Geschichte klammern lässt, aber Julian ganz und gar nicht als abschreckendes Beispiel darstellt, sondern als hin- und hergerissenen Empathieträger, dessen mehr oder weniger bewusst getroffene Entscheidungen plausibel gemacht werden, dessen Reflexionsspur auf laut gestellt wird. So dass man seine Freundin Romea (anders als ihre Eltern) verstehen kann, wenn sie ihm erst in den Islam folgt und sich selbst dann noch Sorgen um ihn macht, nachdem er sich im Zuge seiner gefühlten Berufung zum Gotteskrieger brutal von ihr abgewandt hat, als sie die wirren Thesen seines morbiden ideologischen Unterbaus anzweifelt.

DjihadParadise1 250 Anna Kolata u"Djihad Paradise" © Anna Kolata

Julian und Romea, das ist die zweite Spur dieser Geschichte: Die unvereinbaren Milieus dieser Liebesgeschichte sind das Hartz IV-Prekariat, aus dem Julian kommt (Mutter weg, Vater säuft) und die obere Mittelschicht unter Leistungsdruck ("Mutter Anwältin. Vater Architekt. Ständig unterwegs. Outgesourced Ich: geboren in Berlin. In fünf Ländern gewohnt. Drei Kindergärten und sechs Schulen. Soll weiter optimiert werden. Irgendwann werde ich Meeresbiologin"), der Romea entstammt. Gemeinsam haben sie das Erlebnis der ersten großen Liebe und die pubertätsidentitätskrisenhaft aufgeladene Frage: "Willst du manchmal auch einfach nicht mehr in dieser Welt leben?" (Romea spricht's aus).

Im weiteren wird dann schon deutlich, dass die Dringlichkeit dieser Frage bei Julian größer ist, dass umgekehrt die Resilienz den Versuchungen der alternativen Welt der salafistischen Community, in die Julian sein Zellenkumpan Murat im Jugendknast einführt, bei Romea, die ihm aus Neugier aus Liebe in diese Community nachfolgt, wesentlich größer ist. Kurz: Romea ist stabiler und zu gesunder Skepsis in der Lage. Während Julian das ABC des Islamismus studiert, froh ist, dass beim Beten "meine Außenkamera ausgeht" und sich empfänglich macht für einen Dschihadismus, der im Namen der Gerechtigkeit zum Kampf gegen die Kuffar = Ungläubigen aufruft, hält Romea ein: "Ein Mensch darf doch keinen anderen zwingen, etwas zu glauben!"

Dass ihre beiden Perspektiven bis zum Schluss nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sich aneinander orientieren und stärken, die lebendige Suchbewegung der Erzählung nicht zugunsten moralisierender Schuldzuweisungen in die eine oder andere Richtung aufgegeben wird, ist das große Verdienst von "Djihad Paradise" – das außerdem auch als Shakespeare-Überschreibung aufgeht: Am Schluss steht wie in "Romeo und Julia" ein tragischer Liebestod, Romea versucht Julian vergeblich, vom Zünden der Bombe abzuhalten, und fliegt mit ihm zusammen in die Luft.

"Der goldene Ronny" – Leo und Leah werden olympisch

Unspektakulärer, subtiler, aber ebenso plastisch erstickt eine Liebe an den Verhältnissen in "Der goldene Ronny" vom Schauspieler und Autor Daniel Ratthei, uraufgeführt von Nora Bussenius fürs Landestheater Schleswig-Holstein und als Klassenzimmerstück ganz direkt im "jugendlichen Raum" verortet, und zwar der Schule, in der sich übrigens auch Julian und Romea aus "Djihad Paradise" ganz klassisch kennengelernt haben.

DerGoldeneRonny2 250 photomatzen "Der Goldene Ronny" © photomatzen Hier geht es nun um Leo und Leah, die gemeinsam als Vertreter*innen ihrer Schule ausgewählt worden sind, zu den "Physics and Physical Olympics" nach Berlin zu fahren und den "goldenen Ronny" als Hauptgewinn nach Hause zu holen. Die schlaue Leah ist für Physics zuständig, Leo mehr für Physical – und fürs Fluchen und Schimpfen. Von Anfang an fantasiert er davon, Leah zu küssen, und wehrt diese Fantasien ab, indem er sie laut und still und mit allen bösen Wörtern, die ihm einfallen, beleidigt. Am häufigsten, weil wirksamsten: "fette Kuh".

Nachdem Leo eher zufällig zum Helden der Olympics geworden und die Ereignisse sich in ein Timeout für die beiden überschlagen haben, landen sie doch beieinander. Und in ihren Köpfen, aus denen Daniel Ratthei sie meistens à part sprechen lässt, rauscht es ein bisschen langsamer. Leos Angriffslust ist als fehlgeleitete Autoaggression enttarnt, seine derbe Sprache entschärft. Dass diese Erlösung nicht von Dauer ist, goldener Ronny in der Vitrine hin oder her, klammert das Stück nicht aus, sondern lässt Leo beim Ausstieg aus der Blase mit der Frage alleine: "Gibt es eine Wahrheit des Augenblicks? Und eine Wahrheit der Normalität? Verdreht die normale Wahrheit die Erkenntnis des Augenblicks zur Lüge?"

Selbst wenn Leo sich am Ende wieder verschließt und sich nicht traut, Leah seine Liebe zu gestehen, um solche Gedanken ist er nun bereichert oder auch beschwert. Und auch hier bei Daniel Ratthei ist der Fokus auf jugendliche Figuren gerichtet, denen es zuzumuten ist, sich selber einen Reim auf die Verhältnisse zu machen, in denen sie leben, und denen es auch zuzumuten ist, dabei mal zu scheitern. Dass Leos Mutter Hartz IV-Empfängerin ist und trinkt, wird nur beiläufig erwähnt, wie um jegliche Stigmatisierung zu vermeiden.

"All about nothing" – lakonische Statements

Einen ganz anderen Zugang zu genau diesem Thema – Kinderarmut, Aufwachsen in prekären Verhältnissen – wählt die dritte eingeladene Produktion: "All about nothing" von pulk fiktion, die, schaut man sich die postdramatisch geprägte Auswahl des diesjährigen "Augenblick mal!"-Festivals http://www.augenblickmal.de/de/programm/Jugendtheater an, von den drei Heidelberger Jugendstücken 2017 ästhetisch am repräsentativsten fürs tonangebende Jugendtheater ist.

pulk fiktion, 2007 in Bonn von Hildesheim-Absolventen gegründet, schmeißen ihre Mittel aus den Bereichen Theater, Film, Musik, Performance, Videokunst und interaktive Medien zusammen, um den Verhältnissen auf die Spur zu kommen, den Strukturen, die Einzelschicksale wie das von Julian oder das von Leo ermöglichen.AllaboutNothing2 250 Christoph Wolff"All about Nothing" © Christoph Wolff

Es wird Geburtstag gefeiert, aber rückwärts. Der Tag, an dem Wünsche platzen wie die Ballons, mit denen Performerin Manu auftritt. Auf dem ersten steht 21, auf dem letzten 0. Es wird aber nicht eine Lebensgeschichte erzählt, sondern Manu spricht mit vielen Stimmen, bewegt die Lippen zu Aufnahmen aus Interviews, die pulk fiktion mit Jugendlichen aus benachteiligten Verhältnissen und Sozialarbeiter*innen geführt haben.

Es ergibt sich ein Mosaik aus lakonischen Statements, das die Paradoxie eines Aufwachsens ohne Geld im Herzen des wachstumstollen Kapitalismus sichtbar macht und mehr vom hoffnungslosen Beiklang der O-Töne geprägt ist als von ihrem Inhalt. Im Zwischenraum der rückwärtsdrehenden Uhr ziehen pulk fiktion per Live-Zeichnung, Video, Musik ihre kommentierenden Assoziationen ein, wenn sie zum Beispiel ein Klau-Tutorial entwerfen zum Ausgang des armen jungen Menschen aus seiner nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit.

"Wir sind und waren nie Kinder aus benachteiligten Familien und möchten nie behaupten, sie spielen zu können", schreiben pulk fiktion in einem Begleittext zu "All about nothing", der auf ihrer Webseite nachlesbar ist www.pulk-fiktion.de/all-about-nothing, und so beschäftigen auch sie sich mit der Gefahr der Stigmatisierung, reflektieren ihre Verantwortung als Schicksale-auf-die-Bühne-Zerrer explizit mit und sind bedacht darauf, die Gemachtheit ihrer Erzählung jederzeit auszustellen, ohne Angst, ein jugendliches Publikum damit zu überfordern. Das ja seiner Elterngeneration ohnehin über den Kopf gewachsen sein dürfte, was die Wahrnehmungsaufteilung in multimedial daherkommenden Kunstwelten betrifft.

Das Kinder- und Jugendtheater ist ein glücklicher Referenzrahmen für postdramatische Experimente; ein anspruchsvolles, direkt reagierendes Publikum bannt die Gefahr der Selbstreferentialität und ist gleichzeitig – noch – viel geübter im Fantasie-ausfliegen-Lassen als das erwachsene Publikum. Mit ihrer interaktiven Familienaufstellung "Konferenz der wesentlichen Dinge" sind pulk fiktion dieses Jahr auch zu "Augenblick mal!" eingeladen – da sitzen Kinder und Erwachsene zusammen an einem Tisch und handeln gleichberechtigt die Regeln ihres Zusammenlebens aus. Und auch Anna Kuschnarowas "Djihad Paradise" denkt ja generationenübergreifend, indem es ein Thema, das aus der Sorge der Erwachsenen kommt, aus jugendlicher Perspektive aufrollt.

Also ergreifen wir doch die Chance, gemeinsam Achtsamkeit zu üben, statt uns einzeln gegen die zu schnell laufende Zeit zu stemmen, indem wir Malbücher für Erwachsene und Malbücher für Kinder aus getrennten Regalen kaufen.

 

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