Denk ich an Europa in der Nacht

von Michael Wolf

April 2017. Der Flüchtling schläft. "Baran schläft die ganze Zeit auf dem Sofa", heißt es in einer Regieanweisungen, und weiter: "er kann verkörpert oder entkörpert werden, seine Präsenz aber sollte spürbar sein". Er handelt nicht, bleibt eine Leerstelle im Text. Eine Leerstelle für Erwartungen der anderen Figuren. Und doch oder gerade deswegen löst seine Anwesenheit Unruhe aus. Sie stört die Routine seiner Gastgeber, dem Paar Sibylle und Pierre. Durch Barans lautstarke Angstträume am Schlafen gehindert, sind sie auf sich selbst geworfen, müssen sie ihre Lage reflektieren. Die ist nicht rosig: Ihre Ehe wirkt älter als sie selbst sein können. Sie ist bislang kinderlos geblieben, oder anders gesagt: Sibylle und Pierre haben keine Zukunft. Das Stück sei eine Fabel, heißt es zu Beginn.

In Joël Lászlós "Wiegenlied für Baron" weist alles über sich hinaus. Die Geschichte lanciert am Rande des Realismus, kippt immer wieder ins Gleichnishafte, Symbolische. Pierre und Sibylle sind zugleich ein Paar, und stehen doch für Europa: ein Haushalt, der einst aus Leidenschaft gegründet wurde, in Frieden vereint miteinander zu leben, und dem dieser Grund für das Zusammensein abhanden gekommen ist. Ihre Liebesbeziehung diskutieren sie mit den Worthülsen der Sprache von Politikern: "Wir haben den Konsens verloren."

Erstarrt in der Aufklärung

Die Leidenschaft ist in Routine erstarrt. Francis Fukuyamas "Ende der Geschichte" ist nicht eingetreten. Sie können nicht einfach so weitermachen. Baran war ihre Hoffnung auf einen Neuanfang, eine Rettung der erstarrten Beziehung. Baran sei ein Liebesbeweis, sagt Pierre. "Der Wunsch nach einer Utopie / Und ein Liebesbeweis / Jede Utopie ist im Kern ein Liebesbeweis / Ich habe gedacht / wir helfen / Ich habe gedacht / Wir lernen einander wieder zu verstehen / Ich habe gedacht / Wir lernen uns nochmals kennen / Politisch / Persönlich / Du / Baran / Ich habe gedacht / wir überwinden endlich die verdammten Grenzen."

laszlo vitaJoël László © Aline LászlóNicht aus Idealismus haben sie den Fremden aufgenommen, sondern als Hoffnungsträger. Er sollte sie selbst retten, ihren einen Weg in die Zukunft weisen. "Das war ein Reflex / Das war Neugier / Das war irgendwas / zwischen Feigheit und Völkerschau", begründet beziehungsweise rechtfertigt Sibylle ihre Gastfreundlichkeit. Aber der Fremde ist zu schwach, sich um die Probleme der Einheimischen zu kümmern. Er schläft nur immerzu, träumt kurdisch, das heißt er schreit im Schlaf und lässt seine Gastgeber nicht ruhen. Der Kurde taugt nicht als Beziehungskitt.

2016 erhielt Joël László den Publikumspreis bei der Langen Nacht der neuen Dramatik an den Münchner Kammerspielen. Er schrieb das Stück 2013/14 im Rahmen des Förderprogramms "Dramenprozessor" am Theater Winkelwiese. In dem Jahr ahnte noch niemand die kommende Flüchtlingswelle, wohl aber war die Krise der Europäischen Union bereits beherrschendes Thema. Der Text ist kein Flüchtlingsstück, sondern eines über den europäischen Humanismus und warum er zur Worthülse verkommt. Der Zusammenhalt Europas, die Liebe Sibylle und Pierres steht auf dem Spiel.

Rettung ins Spirituelle

Auch Pierres ältester Freund Robert sucht einen Ausweg aus seiner Perspektivlosigkeit. Er verweigert seine Identität einfach, will selbst ein Reisender werden. Er nennt sich von nun an Samadhi, nach einem hinduistischen Ausdruck, der wörtlich "fixieren, festmachen, Aufmerksamkeit auf etwas richten" bedeutet, und doch genau das Gegenteil meint: Samadhi ist ein Bewusstseinszustand, in dem das klare, zielgerichtete diskursives Denken dem völligen Aufgehen in dem Objekt weicht, über das meditiert wird. Weiter kann sich Robert nicht vom europäischen Aufklärungsgedanken entfernen.

Sibylle und vor allem Pierre suchen nach einem neuen Halt, Robert/Samadhi hat den Glauben an so etwas wie Konstanz aufgeben. Er flieht ins Bodenlose, macht eine Kur für Traumatisierte, obwohl er doch gar nicht traumatisiert ist. Vielleicht wäre er es gern, vielleicht hätte er gern einen Grund dafür, sein bisheriges Leben aufzugeben. So bleibt ihm nur der Glaube an Reinigung. Ein sympathischer Eskapismus, aber László lässt ihn nicht so einfach davon kommen. Konkret führt der spirituelle Sieg über europäische Kleinkrämerei auch nur dazu, dass sich Samadhi täglich zwei Mal warmes Kräuter-Öl in den Darm pumpen lässt.

Mythos vom Raub der Frau

Der Europäer: eine Witzfigur? Wenn es nur dabei bliebe. Bald wird Pierre eifersüchtig, und Sibylle schwanger. Am Ende steht der gekränkte europäische Mann, der Angst hat seine Frau an einen Fremden zu verlieren. Auch das ist die Flüchtlingskrise hier: Eifersuchtsdrama. Der Raub einer Frau steht schon zu Beginn der Geschichte des Kontinents, auch wenn Pierre den Mythos vom Raub der Europa nach Kräften idealisiert: "Am Schluss hat der Stier Europa in die Krone einer Platane gebettet und sie haben sich vereinigt."

Joël László macht nie den Fehler dem Realismus ganz nachzugeben. Seine Sprache ist rhythmisiert, im besten Sinne gebaut. Eine Hilfskonstruktion für Figuren, die keine Wörter mehr haben, eine Welt zu beschreiben, deren Veränderung sie verschlafen haben. Manche Sätze könnten auch von René Pollesch stammen: "Jede Minute meines Lebens habe ich international gedacht / Nicht international zu denken / ist ein Verbrechen / International gesehen / habe ich einen riesigen Fehler gemacht / Dieser Fehler bist du."

So rücken Widersprüche und Widersinn der globalisierten Welt ins eigene Wohnzimmer vor. "Ich will wieder an einem Tisch sitzen können / ohne politisch zu sein", beklagt sich Pierre, aber dafür ist es längst zu spät. Die Moral dieser Fabel? Retten müssen wir uns schon selber.

 

Lesung von "Wiegenlied für Baran" am ersten Tag des Autorenwettbewerbs, 29. April 2017, 15.30 Uhr, im Alten Saal

 

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