Neues Leben für Marionetten

von André Mumot

April 2017. Kurze Sätze sprechen diese Figuren. Manchmal sind es nur einzelne Worte, Ellipsen: "Ainur." "Wo bist du?" "Und jetzt?" "Keine Ahnung." Eine Mutter und ein Vater suchen ihre Tochter, und ihr Dialog ist kaum mehr als ein Taumel aus sich überstürzenden, ratlosen Fragmenten, aus winzigen Gebrauchsformeln: "Sie ist vier." "Klein." "Kann nicht einfach verschwinden." Viele Protagonisten hört man so reden in den Stücken der Gegenwartsdramatik, und oft ist die sprachliche Verknappung, diese Satz- und Argumenterschöpfung bloß prätentiös, ein Mittel, um deutlich zu machen: Das hier ist Theater und kein Realismus. Nur für den Fall, dass doch jemand durcheinanderkommen sollte.

Sprache einer Entfremdung

Bei Lorenz Langenegger ist es anders. Vor allem aber erheblich vertrackter. Die kurzatmig entrückten Sätze werden von zwei Figuren gesprochen, die keine reale Sprache haben können in diesem Drama: Alia und Rashid sind zwei Geflüchtete, zwei Heimatlose, die eigentlich gar nicht hier sein dürften – hier, wo Deutsch gesprochen wird. Also gibt der Autor ihnen eine eigene Diktion, zum Glück jenseits aller Akzentimitationen, lässt sie für uns so sprechen, dass wir sie verstehen und gleichzeitig ihre ratlose Entfremdung schmerzlich offenkundig bleibt.

Aus all diesen abgehackten Such- und Verzweiflungssätzen heraus schält sich zudem langsam, aber umso deutlicher das Grunddilemma aller illegaler Migranten: Wenn's hart auf hart kommt, müssen sie im Schatten bleiben, dürfen sich nicht zu sich selbst bekennen. Als ihre vierjährige Tochter spurlos vom Spielplatz verschwindet, ist Rashid (ein "billiger Möbelpacker", wie es im Personenverzeichnis heißt) und Alia (eine "gute Lehrerin") klar: Die Polizei wird nicht ihr Freund und Helfer sein: "Wir können nicht einmal sagen, wer wir sind. / Die Ausweise sind abgelaufen./ Und wir können keine neuen beantragen. Weil es uns nicht mehr gibt."

In die Freiheit gestolpert

Ist dies nun also das Stück, das uns wirklich hineinführt in die innere Konfliktlage unserer sogenannten Flüchtlingskrise? Es scheint so. Aber kaum hat man sich eingelassen auf diese Lesart, stellt man fest: "Nord West 59" ist sehr viel weniger und sehr viel mehr zugleich, weil der Autor beständig aus dem Vollen schöpft und gar nicht dran denkt, sich auf einen zentralen thematischen Aspekt festzulegen.

langenegger vita© Ruth ErdtLorenz Langenegger ist kein Neuanfänger in der literarischen Welt, hat schon 2009 einen Text im Rennen um den Klagenfurter Bachmannpreis gelesen und mehrere Romane veröffentlicht. Beim Berliner Stückemarkt war er ebenso vertreten wie bei den Werkstatttagen am Burgtheater. Auch in Heidelberg startet er nun keineswegs als Debütant. 2012 war er bereits mit seinem Stadtparkdrama "Wo wir sind" im Autorenwettbewerb dabei, ein Stück, für das er im selben Jahr auch mit dem Preis der Société Suisse des Auteurs ausgezeichnet wurde. Außerdem hat er, und das ist besonders aufschlussreich, als Drehbuchautor an mehreren Schweizer Tatort-Krimis mitgearbeitet.

Langenegger ist zu allererst Erzähler, ein Geschichten- und Figurenfinder, ein Autor, der die so genannten gesellschaftlich relevanten Themen nicht nur fragend betrachtet, sondern in handfeste Plots verwandelt. Und so ist das Besondere an "Nord West 59" (eine Kleingartenkolonie gibt dem Stück seinen Titel), dass die bedrückenden Wahrheiten unserer Welt wie nebenbei aufleuchten in einem penibel konstruierten Handlungsablauf, in dessen Mittelpunkt nicht die beiden Geflüchteten stehen, sondern der Marionettenspieler Mika, der sie unwissentlich mit seinem Laster über die Grenze gebracht und dann als Schlepper zu einer achtzehnmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Ein später, sanftmütiger und scheuer Nachfahre des Franz Biberkopf stolpert hier zu Beginn des Stücks zurück in die Freiheit, schnuppert, schaut sich um und weiß schon, dass er nichts Gutes zu erwarten hat: "Dieser Moment./ Auf die Straße treten, in den Himmel schauen – dieser Anfang."

Fein gewebtes Beziehungsnetz

Dass er unschuldig eingesessen hat, ist eigentlich von Anfang an klar: Dieser Mika ist ein passiver Gebeutelter, einer, dem Dinge zustoßen, keiner, der Dinge bewegt. Konsequenterweise ist sein größter Trick als Artist, dass er es so aussehen lässt, als würde seine Puppe ihn bewegen und nicht umgekehrt. "Die Marionette spielt mit ihrem Schöpfer. Dein Meisterstück", sagt seine Freundin Conny, die ihm jedoch – das gehört zur ewigen Logik der Zurück-aus-dem-Knast-Mythologie – in seiner Abwesenheit nicht die Treue gehalten hat. Sie ist jetzt mit Mikas bestem Freund, dem Werber Flo, zusammen, der sich zudem noch als Vater von Mikas Kind aufspielt. Als wäre das noch nicht genug, muss der frisch Entlassene auch noch 5000 Euro Schutzgeld auftreiben, zu deren Zahlung er sich verpflichtet hat, um im Knast nicht zu Tode geprügelt zu werden.

Mit seinem Stakkato aus sachlichen Kurz-und-Knapp-Sätzen bringt Langenegger all diese unterschiedlichen Figuren zusammen und nutzt Szene für Szene, Begegnung für Begegnung für die Verschärfung der Konflikte und das Hochziehen der Spannungsbögen. Dabei verschränkt er Gegenwart und Vergangenheit, lässt Erinnerungen und Rückblicke in parallelen Bühnenaktionen zum Hauptgeschehen ablaufen, Kernpassagen und einzelne Aussagen wie musikalische Leitmotive wiederholen und verstrickt alle einzelnen Fäden zu einem immer engmaschigeren Netz.

Kolportage verwandelt in Wahrheit 

Dabei liegen – in bester Sonntag-Abend-Krimi-Tradition – wirklich eine ganze Menge überraschende Wendungen auf dem Weg ins makabre Finale. Geklärt wird unter anderem: Wer ist für das Verschwinden des Flüchtlingskinds verantwortlich? Wer hat das angebliche Schleppergeld in Mikas Wagen deponiert? Und wer hilft ihm am Ende die Leiche im Schrebergarten zu vergraben, für die man ihn garantiert verantwortlich machen würde, obwohl er mal wieder vollkommen unschuldig ist? In "Nord West 59" steckt zweifelsohne Material für mehr als eine Tatort-Episode: Es geht um Kindesentführung und Erpressung, Knastalltag und Schutzgeld, um Kunstfälscher und Schlepper, um Justizirrtümer, Mörder und Geflüchtete. Zusammengehalten wird das thematische Überangebot jedoch von einer unbändigen Fabulierlust, die aus Skizzen Menschen macht und aus Kolportagesituationen Augenblicke verblüffender Wahrheit.

Und so sieht es aus, als würden sich die Marionetten, mit denen der Autor spielt, eben doch selbstständig machen, ein unkalkulierbares Eigenleben führen und eine eigene Sprache finden, während sie hin und her hetzen, ein Kind suchen das verschwunden ist, und keine Hilfe erwarten können. "Das kann nicht sein", sagt Rashid. "Gesucht." Und Alia antwortet: "Überall." "Ainur." "Komm zurück." "Wo bist du?" "Und jetzt?" "Keine Ahnung." Kurze Sätze. Bloß Fragmente, die richtungslos durch das Wirrwarr unserer Gegenwart geistern. Und gerade deshalb bekommt man sie nicht mehr aus dem Kopf.

 

Lesung von "Nord West 59" am zweiten Tag des Autorenwettbewerbs, 30. April, 15.30 Uhr, im Alten Saal

 

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