Nur rastlose Herzen

von Janis El-Bira

April 2017. Nach Moskau ist es noch immer endlos weit. Zumindest, wenn man unter Moskau nicht allein die Stadt, sondern eine Art geistiger Mitte versteht. Jenen Ort, an dem die uneinholbare Weite Russlands gesammelt, gebündelt und organisiert wird. Wo die Erfahrungen des Einzelnen in eine Kollektiverzählung übersetzt werden, wo Literatur entsteht und die große russische Seele aus Blut, Birkenholz und Baikalwasser gegossen wird. Dieses Zentrum der verbindenden Klischees und übergreifenden Identität trägt nicht mehr in Marjana Gaponenkos "Eine post-sowjetische Dramolett-Trilogie". Früher richteten Tschechows Provinzler sehnend die müden Augen in die Ferne und träumten sich "nach Moskau! Nach Moskau!". Bei Gaponenko liegt die Hauptstadt für viele ihrer Figuren zwar geradewegs vor der Haustür, aber die Versprechen und Sinnangebote sind hier genauso brüchig wie draußen, weit hinter dem Ural. Eine junge Modelschönheit aus der Moskauer Oberschicht bringt es irgendwann auf den Punkt: "Mann o Mann, Russland, du bist mir unbegreiflich."

Diese Unbegreiflichkeit umkreist der Text der 36-jährigen, in Odessa geborenen Gaponenko, mit dem sie nun beim Heidelberger Stückemarkt vertreten ist. Eine Bühnenerzählung aus dem Riesenreich der großen Ungleichzeitigkeit, deren Titel einen schon ins Schleudern geraten lässt: "Eine post-sowjetische Dramolett-Trilogie". Das ist eher ein deskriptiver Untertitel als ein Name. Er verrät direkt die eigene Textgattung, kündigt ein Triptychon an und verortet das Ganze mit dem "post"-Präfix auch noch in einem Zwischenraum – nicht mehr eigentlich "sowjetisch", aber doch damit verbunden. Das ist ein ziemlich gewaltiges Eingangstor für einen schmalen Text, kaum 40 Seiten stark und für die vor allem als Romanautorin hervorgetretene Gaponenko wohl fast eine Art Fingerübung. Trotzdem fällt die "Dramolett-Trilogie" nicht hinter ihren stolpergefährdeten Titel zurück. Drei Minidramen werden erzählt, alle äußerst kurz, eigentlich eher Szenen als tatsächlich eigenständige Stücke. Ihnen gemein ist das Motiv der Entwurzelung. Heimatlose Seelen durchwandern diese post-sowjetische Landschaft ohne Mitte und Halt und immer wieder tritt die Vergangenheit auf den Plan. Das Unbewältigte, halbfertig Zurückgelassene und Abgestoßene treibt an die Oberfläche wie überschüssiges Fett auf der Suppe.

"Die Hölle hat sich aufgetan."

Nirgends ist das wörtlicher zu verstehen als in "Die zweimal Gemordeten", dem ersten der Dramolette. Als einziger der drei Texte noch in sowjetischer Zeit verortet, sitzt hier eine kleine Gesellschaft Ende der siebziger Jahre in einer sibirischen Kleinstadt auf der Terrasse beisammen. Warwara Pawlowna, die Frau eines Fischfabrikanten, schenkt ringsum Tee ein und spricht schöne Sätze wie von Tschechow: "Im Frühjahr, wenn die ganzen Schneemassen das erste zarte Grün entblößen, wird mir klar, wie gut gaponenko vitaMarjana Gaponenko
© Mathias Bothor
wir es haben. Wer braucht schon Urlaub? Nur rastlose Herzen, leichtsinnige Personen." Der demente Urgroßvater faselt vom russisch-japanischen Krieg, die Hauptstadt ist fern. "Die Hölle hat sich aufgetan", ruft ein Nachbar dazwischen. Unzählige Leichen schwimmen auf dem nahegelegenen Fluss, an seinem Ufer spielen Kinder bereits Fußball mit den Totenschädeln. Hochwasser hat ein Massengrab aus der Stalinzeit losegespült. Die Toten kommen zurück und plötzlich haben sie wieder Gesichter, Namen und Geschichten. Die Anwohner erkennen ihre lange verschwundenen Ehemänner, Söhne, Brüder. Boote kommen, wollen die Leichen an Land ziehen. Es scheitert. Schließlich müssen die Schiffsschrauben herhalten, um zu zerhäckseln, was nicht mehr Gegenwart haben soll. "Auf so etwas", sagt Warwara Pawlowna, "kommen nur die dicken Fische aus Tomsk. Oder vielleicht sogar aus Moskau." Nur ihr Mann, der Fischfabrikant, ist nicht glücklich über die Lösung. Die geschredderten Leichen verpesten seine Ware.

Quälende Erinnerung

Eine kleine Anmerkung am Ende verrät, dass Gaponenko diese Geschichte nicht frei erfunden hat. Sie ist zu grauenhaft, zu böse zum Ausdenken. Ein ähnliches Ereignis hat sich 1979 im westsibirischen Kolpaschewo tatsächlich zugetragen. Doch wie Gaponenko hier Politik und Privates, Erinnerungs(un)kultur und Ökonomie nicht ohne sardonischen Witz engführt, kennzeichnet ihren spezifischen Zugriff auch auf historisch Verbürgtes. "Eine post-sowjetische Dramolett-Trilogie" zeigt eine Gesellschaft, die beständig ihr Eigenstes sucht, sich jedoch nur unter Qualen daran zu erinnern scheint, was das eigentlich einmal war und wie es ausgesehen hat. Die Zeitläufe haben sie zum Vergessen erzogen und die Fähigkeit zur jederzeitigen Selbsthäutung zum Überlebensprinzip gemacht.

Im zweiten Teil, "Der Tag des Sieges", kehrt vor dem Hintergrund des Krimkonflikts eine der in der Nachkriegszeit schändlich behandelten russischen Kriegsversehrten als Untote zurück und spukt durch die Träume eines Jungen: "Ich bin eine große, runde Null, mein liebes Kind, ein Brandloch in der Karte der großen russischen Seele." Mit ihren Orden kratzt sie sich die Brust blutig: "Wir Krüppel leben in Vergessenheit, und ihr siecht im Totschweigen dahin." Im abschließenden Stück, einer bösen upstairs-downstairs-Variation aus der Welt der Mode, wird dieses Vergessen ohrenbetäubend. Ein junger, romantisch veranlagter Balletttänzer des Bolschoi-Theaters begleitet die Tochter eines Moskauer Modezaren auf einen Ball. Er schämt sich, dass er in dieser Gesellschaft nur mit seiner Rolle im "Nussknacker" aufwarten kann. Sie schämt sich doppelt für ihn mit – so einer ist ja gar kein richtiger "Boyfriend", den man den Eltern vorstellen könnte. Zu Tschaikowsky weint hier nur noch das alte Mütterchen.

Vor ein paar Jahren hat Marjana Gaponenko sich für ein Fernsehporträt im altgoldenen Wiener Hotel Imperial filmen lassen, in dem ihr Roman "Wer ist Martha?" spielt. Irgendwie passt sie hervorragend in dieses Ambiente aus feinsten Posamenten und Bordüren. Auch ihre drei Dramolette sind mit ihrer dialogisch geprägten Klassizität und den altmodisch genauen Regieanweisungen sicherlich keine state-of-the-art-Dramatik. Das wollen sie aber auch nicht sein. Zum Kern der Sache führen noch immer viele Wege. Nach Moskau auch.

 

Lesung von "Eine Post-Sowjetische Dramolett" am zweiten Tag des Autorenwettbewerbs, 30. April, um 13 Uhr im Alten Saal

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