Überleben erzählen

von Elena Philipp

April 2017. "Inaktiv seit über einer Stunde." Inakzeptabel, dieser Status! Findet zumindest Tara, die wie besessen ihre Dating-App checkt und panisch wird, als ein ins Visier gefasster Typ plötzlich nicht mehr antwortet. Taras innere Gefühlsarchitektur bebt, die 35-jährige Asylrechtsanwältin verliert den Boden unter den Füßen. Beruflich erfolgreich, emotional brüchig: Als zerrissene Figur gestaltet Maryam Zaree die Protagonistin ihres ersten TheatertextsKluge Gefühle“, mit dem sie auf Anhieb zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen wurde. Tara reagiert auf das emotionale Erdbeben mit sinnfreien Routinen – noch öfter Nachrichten checken, wild herumtelefonieren.

Ihrer Freundin Rabia, die als Telefonseelsorgerin die aufwallenden Panikgefühle stoppen soll, ist sofort klar, warum der Typ nicht mehr geantwortet hat. Tara hat ihm Frage Nummer Drei gestellt, aus einem pseudo-wissenschaftlichen Katalog zum Blitz-Check potentieller Partner-Übereinstimmung: "1. Nehmen Sie sich drei Minuten und erzählen sie einander ihre Lebensgeschichte in so vielen Details wie möglich. 2. Nennen Sie drei Dinge, die sie und ihr Partner gemeinsam haben sollten. 3. Fragen Sie ihr Gegenüber: Welcher Tod in der Familie am besten verkraftet werden würde?"

Wieviel Traumata steckt in der zweiten Generation?

Wer bitte fragt einen Unbekannten nach einem "verkraftbaren Todesfall" in der Familie, um eine Beziehung anzubahnen? Klar kann das schief gehen. Aber Tara findet die Frage ganz normal. Für sie gehört der Tod untrennbar zum Leben. Warum, das enthüllt Maryam Zaree in dramaturgisch geschickter Staffelung erst nach und nach: Taras Mutter, politisch aktiv gegen das iranische Chomeini-Regime, überlebte die Folter in Teherans Evin-Gefängnis. Mit ihrer in der Haft geborenen Tochter floh sie nach Deutschland. Taras Vater hingegen wurde im Evin ermordet – wie so viele iranische Intellektuelle und Oppositionelle in den 80er Jahren. 

zadee vitaMaryam Zaree
© Stefan Klüter
1988 sollen bei einem Massaker in dem berüchtigten politischen Gefängnis mehrere Tausend Häftlinge umgekommen sein. Genau weiß man es nicht, denn bislang hat es keine Aufarbeitung der staatlichen Morde unter Chomeini gegeben.

Fiktionalisierte Historiographie betreibt Maryam Zaree mit "Kluge Gefühle". Ihr Thema ist die transgenerationale Übertragung, die Traumata der zweiten Generation beschäftigen sie: "Gewalt endet nicht mit der Tat, sie überträgt sich auf Kinder und Enkel und hinterlässt Narben durch die Zeit." Eigene Erfahrungen konfrontiert die 33-jährige Deutsch-Iranerin mit ihrem Text – ihre Eltern haben die Haft im Evin überlebt. Wie ihre Protagonistin Tara wurde auch Maryam Zaree im Gefängnis geboren. Ihre Mutter floh in den frühen 80er Jahren mit ihr nach Frankfurt am Main. Zaree kennt die Sprachlosigkeit in den Familien der Überlebenden: "Als Kind weiß man sehr genau, wann man sich den Bereichen nähert, die damit zu tun haben", sagt sie. "Man lernt, nicht nachzufragen wegen der Angst vor Retraumatisierung."

So fällt das Erinnern schwer, denn Archive oder Museen zu den staatlichen Menschenrechtsverletzungen im Iran gibt es nicht. "Die Täter sind noch an der Macht, da findet sich Geschichte nur unter den Betten, in Kartons, im Privaten", erläutert Zaree. Dass im Westen derzeit positiv über einen sich öffnenden Iran berichtet wird, empfindet sie als Affront gegenüber den Überlebenden: "Laut Amnesty International gibt es unter Rohani mehr Hinrichtungen als unter Ahmadinedschad."

Wille zum Well made play

Also berichtet Maryam Zaree als Schauspielerin, Aktivistin und Autorin von den dunklen Seiten des Iran, von Hinrichtungen, Folter und Massakern, auch wenn ihr das nahe geht – "sonst hat die Geschichte nicht stattgefunden", wie sie sagt. Ausgebildet an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Babelsberg, erfolgreich in Filmen wie dem Drama "Shahada" oder der Komödie "Marry Me" und seit 2015 im Berliner "Tatort" Darstellerin der Rechtsmedizinerin Nasrin Reza, dreht Maryam Zaree im Rahmen der ZDF-Reihe "Das kleine Fernsehspiel" gerade ihren ersten eigenen Film. Zwei Jahre lang hat sie für ihre Dokumentation recherchiert, in der sie die Verbrechen des iranischen Regimes in den 80ern rekonstruieren möchte.

Auch ihr Theatertext "Kluge Gefühle" ist ein Ergebnis der Nachforschungen: "Im Stück konnte ich so erzählen, wie es im visuellen Medium Film nicht geht." Humor war ihr dabei besonders wichtig: "Wie kann man eine Komödie schreiben und trotzdem in den Abgrund tauchen?", fragte sie sich in der Schreibwerkstatt des Maxim-Gorki-Theaters, in der der Text entstand. Eingeladen war Maryam Zaree, weil sie mit Yael Ronen nicht nur als Schauspielerin gearbeitet, sondern mit ihr auch den Text zu "Niemandsland" rs Schauspielhaus Graz verfasst hat. So ist es nicht ganz überraschend, dass "Kluge Gefühle" für einen Erstling bemerkenswert komplex und souverän gearbeitet ist. "Ich wollte ein Well Made Play schreiben", erklärt Zaree – drei Akte, eine Geschichte statt einer Textfläche, psychologische Figuren-Motivation. "Obwohl ich mich für eine Hardcore-Rebellin halte, kam ich mir zwischen all den Postdramatischen altmodisch vor", erzählt sie mit einem großen, sympathischen Lachen.

Zuversicht als Ratgeber

Vielleicht weil Maryam Zaree persönlich Zuversicht für eine bessere Ratgeberin hält als Angst, gönnt sie ihrer Hauptfigur ein hoffnungsfrohes Ende, nach etlichen auch schmerzhaften Verwirrungen. Irgendwann verschwindet Taras Mutter Shahla ohne Nachricht. Tara vermutet Schlimmstes, ist haltlos ihren frühkindlichen Verlustgefühlen ausgeliefert. Nie hat Tara mit ihrer Mutter über deren Vergangenheit gesprochen, das Schweigen lastet schwer. Doch der glückliche Zufall wartet schon: Durch den Taxifahrerund Exil-Iraner Kamran – eine "klassische Botengestalt", die Zaree zufolge vom sozialen Abstieg gebildeter Geflüchteter kündet – erfährt Tara vom soeben stattfindenden Iran-Tribunal.

Im Live-Stream entdeckt sie ihre Mutter, die von Folter, überfüllten Zellen und von Taras Geburt im Gefängnis berichtet – mit Zitaten aus dem realen Iran-Tribunal, das Angehörige, Überlebende, Aktivist*innen und Anwälte 2012 in Den Haag als Versuch einer inoffiziellen Aufarbeitung abhielten. Können Worte an alte Wunden rühren, so ermöglichen sie in Taras Fall die Heilung: Endlich liegt das Thema auf dem Tisch, sie kann sich anderem zuwenden. Oder anderen? Nein, noch nicht. Statt auf einem Dating-Event die nächste Beziehungsanbahnung zu starten, geht Tara spazieren: "Es ist so schön grün draußen im Moment. Ist dir das auch schon aufgefallen, alle Bäume blühen, in unterschiedlichstem Grün. Ich will mir das mal anschauen." Klingt nach einer akzeptablen, zwanglos unsozialen Aktivität.

 

Lesung von "Kluge Gefühle" am ersten Tag des Autorenwettbewerbs, Samstag 29. April, um 13 Uhr, im Alten Saal

 

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