Rebellion im Paradies

von Simone Kaempf

April 2017. Der Mythos vom Schlaraffenland, jenem Ort, an dem Milch, Honig und Wein in Bächen fließen, hat immer wieder die Phantasie beflügelt. Zum deutschen Märchenschatz gehört die detailreiche Beschreibung dieses Landstriches: Häuser sind mit Omeletten gedeckt, die Zäune aus Bratwürsten geflochten, Steine aus Käse liegen am Wegesrand, im Sommer regnet es Honig, im Winter hagelt es Zucker. Selbst Geldsorgen sind fremd, denn Münzen lassen sich einfach von den Bäumen schütteln. Das Schlaraffenland ist der Inbegriff eines Ortes, wo alles in Überfluss herrscht. Was aber, wenn die absolute Verfügbarkeit gar nicht glückselig macht? Wenn sich intuitiv Misstrauen regt, dass daran etwas nicht stimmen kann?

In Nicole Kanters Jugendtheater-Variation der Geschichte vom Schlaraffenland wirft das Hamster-Mädchen Flo diese Fragen auf. Am Morgen ihrer Hochzeit stößt sie finstere Seufzer aus: "Hier ist es immer so aufgeräumt. Ich hasse mein Leben. Ich kann nie etwas selbst entscheiden. Ich habe gedacht, wenn ich heirate, wird es aufregend und ich werde etwas erleben. Aber ich glaube, dass sich mein Leben kein bisschen ändert." Da ist sie also, die Langeweile und die Unzufriedenheit mit dem Phlegma eines scheinbar sorgenfreien Lebens. Das Unbefriedigtsein darüber, dass alles kampflos verfügbar ist: der Ehemann, die Rumkugeln, die unermüdlich an den Bäumen wachsen und das Leben rauschhaft rosarot aussehen lassen. Zumindest bis zum nächsten Verdacht, dass mit der Idylle, in der man hier zu leben glaubt, etwas nicht stimmen kann.

Ein Maulwurf als Präsident

"Schlaraffzahnland" heißt Nicole Kanters Stück, und das Sprachspiel darin kann man doppelt unterstreichen, einerseits verortet Kanter ihre Märchen-Variation in ein Schlaraffenland, andererseits steht nicht nur das Hamster-Mädchen Flo im Zentrum, sondern noch andere kindliche Fabeltiere: Eisbären, ein Biber, Flos Verlobter Fridolin, seineszeichen Maulwurf und Präsident des Landes. Und allen voran Raffzahn. Der Staats-Gründer und heimlicher Strippenzieher des Landes ist in diesem Bestiarium ein Ratte und von Anfang an alles andere als ein Sympathieträger. Er gebiert sich als heimlicher Diktator, der in einer unterirdischen Fabrik hunderte Hamster gegen ihren Willen gefangen hält. In Laufrädern treiben sie große Maschinen an, die grünes Gold aus den Minen abbauen als Quell für den grenzenlosen Reichtum. 

kanter vitaNicole Kanter © Verlag für
Kindertheater, Hamburg
Oben die paradiesische Idylle, unten schuften die Hamster in einer Art Arbeits- und Straflager. Diese beide Welten verbindet Kanter mithilfe einer veritablen Krimi-Geschichte, die am Vorabend der Hochzeit von Fridolin beginnt. Die Zeremonie soll in einem großen Stadion in aller Öffentlichkeit stattfinden. Die "dämliche Hochzeit" wie Raffzahns Komplizin sagt – unter der Hand herrscht ein rüder, gar nicht paradiesischer Umgangston im Schlaraffenland. Umgeben ist das Land von einer Mauer aus Zuckerguss, durch die sich alte Freunde fressen: die Biberin Bober und der Eisbär Tunk. Angesichts der Völlerei ist Tunk, der Name mit Bedacht gewählt, erst einmal lahm gelegt wie die trunkenboldigen rotnasigen Schlaraffenlandbewohner auf den Gemälden Pieter Bruegels.

Eine Braut verschwindet

Die Hochzeit platzt, allerdings aus anderen, dramatischeren Gründen: Flo verschwindet, die kommende Präsidentinnen-Gattin wird auf einer Drehbank sitzend plötzlich vom Erdboden verschluckt. Dank dieses am eigenen Leib erfahrenen Ereignisses werden die Figuren endlich wachgerüttelt: Allen voran Präsident Fridolin, der bisher die Augen verschloss, dass immer wieder Hamster-Bewohnter vermisst wurden. Auf der Suche nach Flo entdeckt er die Wahrheit. Flos Großmutter entpuppt sich als politische Untergrund-Kämpferin, die durch das Verschwinden der Enkelin nun endlich den Geheimzugang zu den unterirdischen Hamsterrädern kennt. Raffzahns Diener ist als Agent bei ihm eingeschleust und hat wichtige Infos weitergeleitet. Und der trunksüchtige wie faule Eisbär schafft es im entscheidenen Moment, wider seiner Natur, aufzubegehren und mitzuhelfen, Raffzahns Herrschaft zu Fall zu bringen.

Schemenhaft skizziert Kanter die Grundzüge eines Unrechtsstaats. Doch greift sie die Machenschaften indirekt auf, ohne gleich handfeste politsche Botschaften daraus zu stricken. Dieses Schlaraffzahnland ist mit Fragmenten der Wirklichkeit durchsetzt, durchzogen von aktuellen menschlichen Ängsten. Da entspinnt sich in wenigen Zeilen schon mal ein Dialog zwischen der als Gast gekommenen Biberin und einem heimischen Hamster, der beim Anblick ihres Winterspecks in fremdenfeindliche Wohlstandssorge verfällt: "Und jetzt wollt ihr hierher kommen und unser Land leer fressen, ja? Das könnte euch so passen." Da verhängt Raffzahn den Ausnahmezustand oder es offenbart sich, dass Fridolin abgehört und jeder seiner Schritte beobachtet wurde. Natürlich denkt man dabei bald an heutige Diktaturen oder Oligarchenstaaten. Aber auf der manifesten Spielebene bleibt das Stück stets eine temporeiche Komödie für Kinder und Heranwachsende mit schnellen Dialogen. Als märchenhafte Tier-Fabel tragen die Figuren zugespitzt menschliche Züge, ein Panoptikum aus unterschiedlichen Charakteren, die einen Staat repräsentieren.

Freiheit des Kindertheaters

Die Autorin Nicole Kanter fiel bereits vor einigen Jahren mit ihren Theaterstücken auf, sie ist keine Anfängerin, war mit ihren Texten zu "Neue Stücke für Europa" in Wiesbaden und zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eingeladen. Und doch scheint sie als Schreiberin erst jetzt entdeckt zu haben, welche erzählerischen Möglichkeiten und Freiheiten im Kinder- und Jugendtheater herrschen. Eine Nische, die lange unterschätzt und übersehen wurde.

Die alten ideologischen Kämpfe des Kindertheaters – beschönigt man die Welt und erzählt man in aller Härte von ihr? – löst sie so elegant wie nebenbei. Dem Liebespaar Flo und Fridolin verweigert Kanter ein Happy end: Er will weg aus dem Schlaraffzahnland, sie bleibt, um sich politisch zu engagieren und für die Utopie eines besseren Staates zu kämpfen. Das letzte Wort behält Raffzahn. Im Prolog macht er sich gehörig lustig über alle guten Absichten dieser Welt: "Die Gier ist immer größer als die beste Absicht ... weil ihr gierige kleine Wesen seid, die alles aufessen wollen." Eine kindlich spielerisch vorgetragene Erkenntnis, aber bei aller poetischen Märchenhaftigkeit kann man kaum widersprechen. Oder, so die heimliche Botschaft: die Rumkugeln meiden und das eigene Phlegma eben doch überwinden.

 

Lesung von „Schlaraffzahnland“ am ersten Tag des Autorenwettbewerbs, 29. April 2017, 14 Uhr, im Alten Saal

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