Ist das postdramatische Schreiben vorbei?

von Wolfgang Behrens

8. Mai 2017. Jedes Jahr kann man sich nach dem Autorenwettbewerb des Heidelberger Stückemarkts dieselbe Frage vorlegen: Waren die dort versammelten neuen Stücke in irgendeiner Weise repräsentativ? Exemplarisch? Stehen sie für eine sich abzeichnende Tendenz? Und jedes Jahr muss man eingestehen, dass diese Frage kaum valide zu beantworten ist, schon allein deswegen nicht, weil die sechs ausgewählten Stücke des Wettbewerbs nur die Spitze des Eisbergs sind. Was ergäbe sich wohl für ein Bild, schaute man in alle 92 eingesendeten Stücke hinein?

Dabei wäre es in diesem Jahr besonders verlockend, aus den sechs Stücken etwas Gemeinsames abzuleiten, denn sie erweisen sich in mehrfacher Hinsicht als recht homogen. Keines der sechs etwa präsentiert sich als sogenannte Textfläche, keines will anmaßend, ausufernd, das Theater durch eine textliche Zumutung herausfordernd sein. Stattdessen: Figuren und Dialoge, meist schnelle und pointierte. Wollte man hier wirklich eine Tendenz unterstellen, so müsste man sagen: Das postdramatische Schreiben ist vorbei. (Wobei das Siegerstück des Vorjahrs – "Beben" von Maria Milisavljevic – dem noch entgegenstehen würde; einer bösen Formulierung der Rhein-Neckar-Zeitung zufolge gehört es zur "Kategorie der postdramatischen Dutzendware".)

MaryamZaree 280Maryam Zaree
© Annemone Taake
Well-made-Realismus

Eine weitere Gemeinsamkeit dieses Jahrgangs besteht in einem ausgeprägten Hang, politische Dimensionen in die Texte hineinzunehmen. Das geschieht auf sehr unterschiedliche Weise: Selbst ein Kinderstück wie "Schlaraffzahnland" von Nicole Kanter gibt sich ausgeprägt politisch, indem es im Gewand einer Tierfabel einen Unrechtsstaat entwirft. Und allein das Thema Migration taucht in drei Stücken auf: In Lorenz Langeneggers krimiartig konstruiertem Plot von "Nord West 59" findet sich ein Marionettenspieler als Schlepper wider Willen wieder; in Joël Lászlós "Wiegenlied für Baran" versucht ein Paar, seine eigenen Probleme zu lösen, indem es einen Flüchtling aufnimmt; und in Maryam Zarees "Kluge Gefühle" arbeiten Exil-Iraner*innen ihre traumatischen Erfahrungen auf. Zudem sind zwei der Autorinnen – neben Maryam Zaree noch die Ukrainerin Marjana Gaponenko – nicht im deutschsprachigen Raum geboren: Die deutschsprachige Dramatik öffnet sich gleichsam auch personell zur Welt hin.

Es ist jedoch auch auffällig an diesem Heidelberger Jahrgang, dass er sich literarisch nicht sonderlich avanciert gibt. Ausgeprägten sprachlichen Eigensinn entwickeln eigentlich nur Lorenz Langenegger mit seiner poetischen, kommunikative Leerstellen lassenden Verknappung und Sigrid Behrens in ihrem Kinderstück "Anfall und Ente", das seine skurrilen Titelfiguren in sprachspielerischen Rhythmen parlieren lässt. Die Dialoge aller anderen Stücke zoomen nah an die Alltagssprache heran, geben einen plaudernden Konversationston vor wie Marjana Gaponenko in ihrer "Post-Sowjetischen Dramolett-Trilogie" oder bedienen einen flotten, oft auf Pointe geschriebenen Well-made-Realismus (Zaree, László und auch Kanter, sofern man Tierfiguren realistisches Sprechen zugesteht).

Stuema Abschluss P77 280 Annemone TaackeAbschluss Preisverleihung 2017
© Annemone Taake

Wenn man positiv von der Homogenität der Stücke dieses Jahres sprechen kann, so könnte man auch negativ formulieren: Die Bandbreite, aus der die Jury zu wählen hatte, war im Verhältnis zu früheren Jahren schmal. Dazu kommt, dass zwei Kinderstücke im Wettbewerb waren, und auch wenn etwa Sigrid Behrens nur den "Unterschied zwischen guten (sprachlich interessanten, relevanten, eigenständigen, 'funktionierenden') und weniger guten (sprachlich konformen, irrelevanten, uneigenständigen, banalen) Stücken" gelten lassen will, so darf man doch fragen, ob für Kindertheater nicht andere Beurteilungskriterien in Anschlag kommen. Eine Jury muss jedenfalls nicht glücklich darüber sein, solchermaßen Auseinanderliegendes innerhalb eines Wettbewerbs beurteilen zu müssen.

Die Entscheidungen

Dass am Ende Maryam Zaree (hier die Autorin im Video) den Autorenpreis davontragen darf, ist letztlich eine sehr nahvollziehbare Entscheidung. In der Laudatio heißt es, ihr Stück "Kluge Gefühle" sei ein Text, der "auf überraschende Weise die Tonart wechselt, der manchmal auf falsche Fährten führt und sich aus der Perspektive der Hauptfigur Tara, einer toughen jungen Anwältin für Asylrecht, immer weiter in eine dunkle Vergangenheit vortastet, die letztlich in ein für Folter und Grausamkeit an politischen Gefangenen berüchtigtes Teheraner Gefängnis Anfang der 80er Jahr führt." Das benennt sehr gut die irritierende Qualität des Stücks: Ins scheinbar harmlose Gefäß der Well-made-Komödie dringt plötzlich eine unerwartete thematische Schwere. Und weil es hier in einem vorherrschend leichten Ton wirklich um etwas geht, nimmt das Stück in der Tat für sich ein.

Dass Joël Lászlós "Wiegenlied für Baran" (hier der Autor im Video) den Publikumspreis zugesprochen bekam, ist hingegen eine faustdicke Überraschung. Was nicht am Text liegt, sondern an der Statistik: In den vergangenen Jahren hatte immer eines der Stücke aus dem Gastland (die mit um den Publikumspreis konkurrieren) gewonnen. Man mag vermuten, dass sich das Publikum in Lászlós Grundsitutaion – dem sich die Köpfe heiß redenden Paar neben dem schlafenden Flüchtling – trefflich wiedererkannt hat.

 

Mehr über die weiteren Preise in einem Resümee von Simone Kaempf und Michael Wolf.